Bitteschön

achtes Kapitel
Ich stand bei Carl im Büro, er sah mich streng an und begann:
„Ich müsste da etwas mit dir besprechen...“
Dieser Blick, diese Formulierung. Habe ich am Ende etwas ausgefressen? Mein Hirn rotierte, aber mir kam beim besten Willen nichts in den Sinn. Also cool bleiben und zuhören.
„... das ist so: du weisst ja, ich muss zuerst eine Woche nach Japan und dann nach Australien, wobei ich nicht weiss, ob es dort länger als eine Woche dauert, zumal in Australien noch etwas persönliches zu erledigen ist. Was es ist, das erzähle ich dir mal bei einer Flasche Rotwein. Dazu muss ich mir erst Mut antrinken...“
„Carl, du weisst, ich mach‘ alles für dich, ausser morden, entführen und Überfälle mit Einsatz von Schusswaffen...“
„Hahaahaahaaa!! Gut zu wissen, vielleicht in Zukunft. Man weiss ja nie! Nein, es ist ganz simpel: könntest du in Zeit meiner Abwesenheit nach Gisela schauen? Sie kommt ja gut mit deiner - wie nennst du sie? - Prinzessin aus, und du bist ein ehrlicher, anständiger Kerl.“
„Ja klar, selbstverständlich. Platz haben wir genug.“
Seine Formulierung fand ich hingegen eher ungewöhnlich. Will er mir sein Meerschweinchen in Obhut geben, oder spricht er tatsächlich von Gisela, seiner Partnerin?
„Und was ist mit den drei Hunden?“
„Um diese kümmert sich der Gärtner. Gisela möchte ich ihm allerdings nicht anvertrauen.“
„Ich frage heute Abend noch Cristina, sie ist ja fürs Haus zuständig. Ich bin mir aber sicher, sie ist einverstanden. Sie freut sich wahrscheinlich sogar, wenn Gisela bei uns wohnt. Morgen gebe ich dir Bescheid, ist das für dich in Ordnung?“
„Mein lieber, junger Freund, schau‘ dass du nicht zu viel Macht an Cristina abgibst. Das kommt nicht gut! Denk an die Vertreibung aus dem Paradies. Und ist Saint Hiram etwa nicht das Paradies? Hahahahaaaaa!“
Carl ist ein wirklich guter, lustiger Typ und guter Chef, aber dann gibt es solche Momente. Jemand sagte mir, er stamme von Piraten ab.
Abends beim Nachtessen.
„Carl hat mich gefragt, ob Gisela mindestens zwei Wochen hier wohnen darf? Er muss ins Ausland.“
„Carl fragt dich, ob du mich fragen kannst, ob meine beste Freundin zwei Wochen hier wohnen kann?!“ Das Grün in ihren Augen nahm einen giftig-grünen Farbton an und ihre Stirne wurde heiss und rot. Was hat die Legierung für einen Schmelzpunkt, aus der Zahnspangen gefertigt werden? Ich hoffte ihre schmilzt nicht gleich.
„Nicht ganz. Er hat mich gefragt. Und ich habe ihm gesagt, dass ich es heute Abend mit dir besprechen werde...“
„Besprechen, besprechen... nennt man das jetzt so?!“
Sie stand auf, das nächste was ich hörte, war eine Tür die kraftvoll ins Schloss fiel. Was ist hier los? Was habe ich falsch gemacht?
Cristina und ich haben vereinbart, dass wir jedes Problem möglichst vor dem Zubettgehen ausdiskutieren. Wir gehen normalerweise um elf in die Haya, als bleiben noch drei bis vier Stunden um die Sache zu klären. Aber zuerst muss meine Prinzessin runterkommen.
Ich ass fertig und räumte das Geschirr in den Spüler. Dann ging ich ins Wohnzimmer und begab mich ins World Wide Web, um Newsportale aus Europa zu lesen.
Plötzlich stand eine kleine, geknickte Person mit grünen Augen und Zahnspange im Türrahmen.
„Es tut mir leid. Können wir reden?“
Ich setze mich aufs Sofa, fuhr mit der Hand über den Platz neben mir und sagte:
„Komm‘ her, setz‘ dich zu mir.“
Sie setzte sich und Tränen liefen ihr über die Wangen und spülten Farbpigment ihres Make-up mit. Sie schluchzte.
„Es hat nichts mit dir zu tun...“ da war ich schon mal froh, denn ich liebte meine Prinzessin, und wollte ihr bestimmt nicht schlechtes antun.
„es ist so: ich habe heute Morgen schon mit Gisela per WhatsApp die Sache besprochen. Ich wollte dich auch noch fragen, ob es für dich in Ordnung wäre, wenn Gisela zwei Wochen hier wohnen würde? Platz haben wir ja genug. Ich hab ihr gesagt, die Hunde könnten auch mitkommen, du liebst ja Hunde.“
„Genau das habe ich mit Carl auch so besprochen. Aber ich sehe den Grund deiner Reaktion noch immer nicht.“
Sie zog sich die letzten Tränen durch die Nase hoch und fuhr sich mit der Zunge durch ihre Vampirgummis über die Lippen.
„Es geht nicht um dich. Du bist der beste Kerl, der mir je begegnet ist, ich liebe dich, und ich weiss, dass ich mit dir alles besprechen kann, und wir immer eine Lösung finden. Allermeistens...“ sie lächelte mich glitzernd an.
„Sorry, Prinzessin, ich verstehe immer noch nicht?“
„es geht um Carl. Er behandelt Gisela, wie wenn sie sein Kind wäre. Er kümmert sich um alles, sie darf nichts alleine entscheiden. Sie ist meine beste Freundin hier auf Saint Hiram. Wir sind bestimmt in der Lage, diese Sache mit den drei Wochen zu regeln!“
Ich sah, das Problem lag tiefer und war ernster. Ich wusste nicht, wie ich es Cristina hätte erklären sollen. Denn da waren noch Carls Äusserungen im Büro heute.
„Mein Vorschlag: du schickst Gisela ein WhatsApp, dass sie kommen kann. Sie sagt es Carl und die Sache ist auf direktestem Weg erledigt.“
Cristina sah mich mit einem Blick an, der sagte: ok, mach‘ ich, aber ganz begriffen hast du‘s nicht. Ich hätte gerne per Blick geantwortet: doch, hab‘ ich. Ich weiss aber nicht was ich tun soll. Sie stand auf, ging hinaus und ich hörte wie ihre Fingernägel auf ihrem Smartphone herumklopften.
Dann kam sie wieder ins Zimmer - sie sah wieder bessere aus - setze sich aufs Sofa, strich mit der Hand auf den Sitzplatz neben sich und sagte zu mir:
„Komm‘ setz‘ dich hin!“
Wir mussten beide herzlich lachen, und einer ihrer Vampirgummis flog durchs Wohnzimmer.
„Moment, Gummialarm, aber du kannst es dir ruhig schon einmal bequem machen.“ wir lachten wieder und sie stürmte aus den Zimmer.
Ich setze mich auf‘s Sofa, sie kam wieder zurück, zeigte mir ihre Spange und meinte: „wenigstens diesbezüglich ist wieder alles in Ordnung.“
Kunstpause. Sie überlegte, wie sie anfangen sollte.
„Also...“ der erste Bauer stand auf den Schachbrett.
„Ich habe eine Zahnspange...“
„Ja, das seh‘ ich!“
„Jetzt unterbrich mich nicht! Was ich sagen will: ich habe freiwillig eine Zahnspange. Du kennst die ganze Geschichte so gut wie ich. Gisela hat ihre nicht freiwillig, Carl hat entschieden dass sie eine haben müsste. Er hat sie dazu gedrängt. Und dann kam das mit dem Headgear, den sie wirklich hasst. Dann das mit dem Zeiterfassungssystem. Und als sie sich dagegen auflehnte, wurde der Headgear fest montiert. Und jetzt dieses Kunststoffteil, mit dem sie fast nicht sprechen kann: Zweiundzwanzig Stunden täglich.“
„Und ihr habt jetzt das Gefühl, dass Carl böse Absichten hat? C‘mom! Ja, Carl ist ein Dinosaurier was den Umgang speziell mit Frauen angeht. Aber auch andere Leute hier auf Saint Hiram werden komisch behandelt...“
„Leute?! Es sind NUR Frauen. Achte dich einmal...“
„Aber der Behandler ist MacGee, und ja, das scheint ein Nerd zu sein. Aber ob Carl damit etwas zu tun hat, bezweifle ich. Carl bei allen Frauen?“
„Nein, nicht Carl alleine. Die Männer von Saint Hiram!“
„Sorry Cristina, überleg‘ dir, wie du dich anhörst. Das tönt wie ein Verschwörungstheorie...“
„Was denkst du, was dir Andy aus dem Arch and Whale erzählen will? Morgen Abend gehen wir bei ihm vorbei!“
„Nein, tun WIR nicht.“
„Überleg doch, er wollte dich warnen, und dann hat er gesehen, dass du schon mit einer mit Zahnspange liiert bist. Also schon assimiliert.“
„Andy ist ein Barman. In vielen Bars gibt es auch Prostitution, ich kenn‘ das Arch and Whale nicht, aber einsame Männer suchen manchmal sowas. Das wollte er mir offerieren - vielleicht sogar zu „Sonderpreis“ - und dann sah er, dass ich schon das hübscheste Girl auf der Insel geangelt habe. Womit ich für ihn „assimiliert“ bin. Die einfachste Lösung ist meistens, die richtige...“
Cristina dachte nach und ihre Zunge fuhr fortwährend zwischen den Gummis hindurch auf den Lippen hin und her.
„aber... nein, warte... wenn wir davon ausgehen... ach, lass‘ mich darüber schlafen...“
Sie ging ins obere Badezimmer, ich benutze das vom Gästezimmer im Erdgeschoss.
Als ich auch nach oben kam hatte sie schon ihr Nachthemd mit den dünnen Träger an und bürstete sich sie Haare. „hundertundeinmal, hundertundzweimal...“
Wir konnten Streit haben, wir konnten intensiv diskutieren, aber mit ihr konnte man sich wieder rasch versöhnen und Spass haben. Meine Prinzessin!
Was, wenn Cristinas Theorie nicht falsch ist?
Es gehen spezielle Dinge vor, hier auf Saint Hiram...
„Carl, hast du fünf Minuten für mich?“
„Come in, take a seat. Mit was kann ich dir helfen, my good friend?“
„es geht um unsere Mädels. Sie sind beides Goldschätze, das kannst du nicht verleugnen.“
„of course, of course!“
„denkst du nicht auch, dass sie einmal etwas spezielles verdient hätten?“
„was meinst du? Ring, Handtasche, Schuhe? Von denen haben sie doch schon ganz viele. Meine jedenfalls.“
„Cristina auch, natürlich. Nein, es geht um etwas anderes. Diese beiden Prinzessinnen brauchen Zeit für einander, damit sie Dinge tun können, die die beiden sehr gerne machen.“
„Was meinst du? Zum Beispiel...“ er bildete auch Hand und Daumen einen Entenschnabel und schlug mit dem Daumen und den restlichen Fingern zusammen.
„Exakt!“
„Wenn Gisela in deinem Haus wohnt, werden sie vierundzwanzig Stunden täglich Zeit dafür haben.“ mir viel auf, er sprach von deinem Haus, nicht von eurem Haus. Solche Dingen fielen mir in letzter Zeit vermehrt auf. Nicht, weil Carl mehr solche Dinge sagen würde, eher weil ich dafür empfindlicher wurde.
„Nicht ganz. Giselas neue Zahnspange behindert sie beim...“ ich machte auch den Entenschnabel. „Wie wäre es, wenn sie dieses Ding in den Tagen, in denen sie bei mir wohnt, nicht tragen müsste?“ die Wahl des Wortes „mir“ statt „uns“ war ganz bewusst.
„das ist Crazy Doc MacGees Business. Da kann ich ihm doch nicht hineinreden. Er redet bei mir auch nicht rein. Gottseidank, dieser alte Spinner.“
„red‘ doch bitte mit ihm. Was kann schon passieren? Dann trägt Gisela ihre Spange eben nachher zwei-drei Wochen länger. So what?“
„Das scheint dir ja wirklich wichtig zu sein. Ich werd‘ mich mal mit ihm unterhalten. Er kommt heute Abend zu mir. Eine Partie Billard. Du kannst auch kommen, wenn du Lust und Zeit hast. Und wenn dich Cristina lässt. Hahahaaaha...“
„tönt gut, aber leider ist heute mein persönlicher Bar-Abend, ohne Anhang.“
Es war tatsächlich ein Bar-Abend ohne Anhang.
Nach der Arbeit ging ich auf direktem Weg ins Arch and Whale. Es war wirklich gut besucht, und ich musste mich zur Bar vorkämpfen, hinter der neben Dave auch noch eine grossbusige, leichtbekleidete Blondine arbeitete. Ich vermute, in ihrem Pass steht bei „Haarfarbe“ nicht „blond“. Dave sah mich und gab mir ein Zeichen, auf seine Seite der Bar zu kommen. Ich kämpfte mich der Bar entlang in seiner Richtung, dabei bin ich fast über eine Handtasche und einen Hund am Boden gefallen. Der Hund meldete sich, die Handtasche blieb stumm.
Die blonde Bardame kam auf mich zu, um sich nach meinem Wunsch zu erkundigen. Dave grätsche dazwischen.
„Sorry Darling, my client. Special client.“
„Hey, so kenn‘ ich dich gar nicht.“ gab ihm die Kollegen zur Antwort, und schlug ihm lachend in seinen wirklich knackigen Hintern, und dabei entblösste sie ihren Mund: MacGee-Lächeln in Entstehung, oder in Revision.
„Du siehst, ist grad viel los hier. Hast du eine halbe Stunde, dann ist‘s wieder besser. Was darf es sein?“
„hmmm, einen Martini Bianco, bitte“
„C‘mon Mate, wir sind hier eine richtige Bar, mit einem richtig guten Barman. Ich mix dir was, das wird dich umhauen.“
Ich hoffte, das war bildlich gesprochen.
Er hantierte kunstvoll mit verschiedenen Flaschen herum und ich hatte Zeit mich umzusehen. Es war niemand da, den ich kannte. Nicht weiter schlimm.
„Hier für dich Mate. Geht aufs Haus. Meine Eigenentwicklung, lass mich nachher wissen, ob er dir schmeckt.“
Ich nahm das Glas von der Theke und kämpfte mich zur Wand an der anderen Seite des Raums. Dort hatte ich ein einigermassen ruhiges Plätzchen entdeckt.
Ich sass auf einem Barhocker und schlürfte an Daves Eigenkreation. Diese war wirklich gut.
„Ganz alleine auf der Piste?“ Ich drehte mich der Stimme entgegen und sah direkt in einen Mund voller Brackets und einer bekannten Konfiguration von Gummizügen. Der Gummi vom oberen Eckzahn auf der einen zum unteren Eckzahn auf der anderen Seite, machte sie so einmalig. Sie gehörte zur Innenarchitektin.
„bist du oft hier? Habe dich noch nie hier gesehen.“
„wurde mir von einem Kollegen empfohlen,“ log ich, „sie sollen gute Drinks hier mixen. Und der hier IST gut.“
„Ja, Dave ist ein wahrer Künstler in seinem Fach. Chears!“ sie streckte mir ihr Glas entgegen. Mit einem Schirmchen und einem Strohhalm.
„Was führt dich hierher?“
„pfffuh, was für ein Tag! Ich brauchte driiiingend einen von Daves Drinks!“
„Alles in Ordnung.“
„Naja, ich hatte einen Termin bei MacGee. Der sollte dir ein Begriff sein?“
Ich nickte.
„Laut seinem Behandlungsplan hätte ich dieses Zeug schon längst aus meinem Mund wieder loshaben sollen. Aber die Sache will und will kein Ende nehmen. Als ich dachte, dass die Spangen definitiv los bin, hat er mich mit diesem Satz Gummis versorgt...“
Sie öffnete ihren Mund genug lang, damit ich mir die Situation genau ansehen konnte: da war dieser Gummi der von oben rechts nach unten links über ihre Frontzähne gespannt war. Dann hatte sie auf beiden Seiten Gummis in einer Dreieckformation: auf der rechten Seiten vom unteren Prämolar zum oberen Eckzahn und dem Prämolar dahinter. Auf der linken Seite war der Gummi vom oberen Eckzahn zum unteren Eckzahn und dem Prämolar dahinter.
Dann war auf der rechten Seite ein Gummi vom Prämolar unten links zum hintersten Molar oben links gespannt, und auf der linken Seite von oben oben rechts nach unten rechts. Ich zählte fünf Gummizüge, alle in Weiss deren Konfiguration für mich keinen Sinn ergab. Hoben sich ihre Zugkräfte nicht gegenseitig auf?
„Das sieht allerdings kompliziert aus...“
„Nicht einmal anständig einen Drink kann man damit geniessen. Siehst du? Strohhalm!“
Sie führte sie den Strohhalm in den Mund, dabei stiess dieser gegen den Gummi, der diagonal über die Front gespannt war.“
„wie lange soll das noch dauern? Du hast ja sehr schöne Zähne...“
„das wissen wahrscheinlich nicht einmal die Götter. Nur MacGee, und auch da bin ich mir nicht mehr sicher.“ sie klang gleichzeitig mutlos, frustriert und traurig.
„Eigentlich war vorgesehen, ‚nur‘ noch rasch ‚etwas kleines‘ zu korrigieren, und jetzt habe ich heute noch diese verdammten Dinger bekommen...“
Sie öffnete den Mund und zeigte auf die beiden Dreiecke. Ja, die waren mir bisher tatsächlich nicht aufgefallen. „... aber wahrscheinlich langweile ich dich nur damit?“
„Nein, ganz und gar nicht. Erzähl weiter.“ War Daves Drink ein Wahrheitsserum?
„Wirklich?“
„Ja, los. Ich habe alle Zeit.“
„Ich kann Dir nicht sagen, seit wann ich die Spangen drin habe. Eigentlich war vorgesehen, dass sie rauskommen, bevor ich nach Brighton gehe. Ich habe mich dann überreden lassen, sie zur ‚Retention‘ drin zu lassen...“ diesen Teil ihrer Geschichte, habe ich schon einmal gehört. „Dann fand er, dass sich während meiner Zeit in England, verschoben hätte. Ich war die einzige Person bei diesem poshy, südenglischen Innendesigner mit fucking Schneeketten im Mund!“ sie redete sich in Rage. „Für was? Für die Katz? Wenn es sich mit dieser kack Metallfresse verschoben hat, hätte es sich wahrscheinlich auch ohne!“ Ich kannte sie bisher nur als freundliche, zurückhaltende und nett lächelnde Engländerin. Was ist mit ihr passiert?
„Ok, dachte ich, wenn‘s den sein muss. Ich bin ästhetisch veranlagt, ich liebe schöne Dinge. Muss ich ja, mit meinem Job. Und ich freute mich auf die Hochzeit! Die Fernbeziehung rund um die Erde war schon schwer genug. Ich wollte eine richtige Märchenhochzeit, mit allem was dazu gehört: schönes Kleid, perfekte Haare, professionelles Make-up, Schmuck und einem Lächeln, das Eis schmelzen lässt...“ ich konnte sie mir wirklich als solche Märchen-Prinzessin vorstellen. „... das verstehst du, als Mann, wahrscheinlich nicht, aber die allermeisten Frauen wollen wenigstens einen Tag in ihrem Leben Prinzessin sein. Einen einzigen verschissenen Tag. Das wird uns wahrscheinlich seit Kindheit eingebläut. Und ich, ich habe meinen Märchenprinzessinenhochzeitstag mit Sch***sspangen im Mund verbracht. Fuck! Und weisst du was? Beim nächsten Termin bei diesem Kurpfuscher, hatte der die Frechheit, mir zu sagen, er hätte gehört, ich hätte an meiner Hochzeit die Gummis nicht drin gehabt! An meiner eigenen Hochzeit!“
Sie zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. Hinten lief... war es Mel, oder war es Doo?.. vorbei und winkte mir zu.
„Und weisst du was? Heute hat mir MacfuckingGee vorgeschlagen, ich sollte seine eigene Erfindung tragen, so einen MacGee-Modifyer. No way. Ab-so-lutely-no-way! Hast Du schon mal jemand mit einem solchen Teil gesehen?“
Ich nickte.
„Das reinste mittelalterliche Folterinstrument! Du kannst kein Wort damit reden. Keines! Im alten England hat man geschwätzigen Frauen sogenannte Schandmasken verpasst, um sie zu disziplinieren!
Vorher fliege ich nach Chile, oder sonst wohin, und lass mir den ganzen Krempel von den Zähnen reissen!“
Schandmaske? Das war das Stichwort? Geschwätzige Frauen? Habe ich Cristinas Verschwörungstheorie übernommen?
Sie sog nochmals an ihrem Strohhalm, inzwischen ist sie wieder etwas heruntergekommen.
„Sorry, es kam einfach so über mich. Aber es musst einfach raus. Glaube mir, sonst habe ich meine Emotionen mehrheitlich im Griff. Ausser bei Rugby; aber dort darf man...“ sie lächelte mich an und fuhr sich anschliessend mit der Zunge über die Lippen, es war nicht einfach, es kamen mindestens drei Gummis in die Quere.
Die Sache mit der Schandmaske ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hackte nach: „aber das Geschäft läuft?“
„mehr als gut! Ich kann sehr zufrieden sein. Ich habe nach meiner Rückkehr aus Europa etwas Pepp in die Bude gebracht. War ein Risiko, aber den Kunden gefällt es offensichtlich. Nicht zu modern, aber auch nicht mehr Vorkriegsästhetik... Für meinen Partner ist’s manchmal etwas zu viel, weisst du, er hätte gerne, wenn ich mich mehr ums eigene Haus und so kümmern würde. Er ist nie von der Insel weggekommen, und hier zählen eben noch die traditionellen Werte: Familie, Kinder und so. Er hätte auch sehr gerne einen Haufen eigener Kinder. Ich habe mein Geschäft, das gibt mir Befriedigung. Versteh mich nicht falsch, ich liebe Kinder. Jede Frau liebt Kinder, das ist in unseren Genen. Glaube ich zumindest.
Ich verdiene auch mehr als er. Er würde es niemals zugeben, aber es ist ein Problem für ihn. Letztens habe ich ihm vorgeschlagen, dass er den Haushalt übernehmen könnte, und die Erziehung der Kinder. Er ist blitzschnell verschwunden und zwei Tage später völlig versoffen wiedergekommen. Dieses Thema werde ich nicht wieder anschneiden.“ und sie lachte herzlich. Dabei löste sich der Gummi über die Frontzähne und zwickte sie in die Lippe. Während sie einen neuen Gummi aus einem Säcklein in ihrer Krokodilleder-Handtasche nahm und gekonnt wieder einsetzte, meinte sie: „siehst du, nicht einmal herzlich lachen kann man mit diesen Dingern im Mund.
Die Bar hatte sich inzwischen geleert, und sie sah auf die Uhr. „Mist. In einer halben Stunde ist Rugby-Training. Als Trainerin darf ich nicht zu spät kommen. Sorry, dass ich die so überstürzt verlasse. Können wir uns mal zum Lunch treffen? Würde mich wirklich riesig freuen!“
„Sehr gerne!“
Nochmal eines ihrer bezaubernden MacGee-under Construction-Lächeln. Und schon war sie weg.
Ich sass noch auf meinem Barhocker und dachte nach. Whow, das war intensiv! Dave stand neben mir und sagte: „da ist unsere lovely Isabelle gerade schwer in die Gänge genommen.“
„allerdings. Ich kenne sie so gar nicht.“ und als Witz: „Dave, was hast du ihr in den Drink gemixt? Die ist ja richtig aus sich herausgekommen.“
Er lachte zweideutig: „l‘m a professional, you know, Mate! Aber ich sag dir es gibt noch andere Ladies hier auf der Insel, die sowas wie Isabelle notwendig hätten. Aber komm‘, setz‘ dich zu uns an den Tisch.“ er zeigte auf einen Tisch hinten im Raum, an dem schon... ist‘s Mel, oder Doo?.. sass. „Darf ich dir nochmal etwas bringen?“
„bitte nur ein Cola. Dein Drink war sehr gut, aber weisst du, mitten in der Woche.“
Ich sah auf meinem iPhone, dass mir Cristina schon zwei Mitteilungen geschrieben hat.
Meine Antwort war gelogen: „noch geschäftlich unterwegs. Sorry, meine liebe Prinzessin.“ es kam ab und zu vor, dass ich mit Carl und Geschäftspartnern noch abends etwas trinken ging. Cristina verstand es und vertraute mir.
Die Antwort kam umgehend: „kein Problem. Und denk dran, wir haben erst Mittwoch!

?

?“
Ich setze mich zu... an den Tisch und sprach das Problem umgehen an:
„Ist mir wirklich peinlich, aber bist du Mel, oder Doo?“
„Ich bin Mel. Bei uns ist das ganz einfach: Doo ist die von uns mit den grossen...“ und sie bildete mit ihren Händen zwei Körbchen vor ihrem Oberkörper. „... also logisch: Doo. Ganz einfach zu merken.“ war das jetzt ein typischer Lesbenwitz? Jedenfalls konnte ich die beiden in Zukunft unterscheiden. Inzwischen sass auch Dave am Tisch. Auch mit einem Cola. Er fing an: „hast du dich gut eingelebt im Paradies in the middle of Nowhere?“
Ich hielt mich bei meiner Antwort relativ allgemein. Ja, es gefalle mir, nette Leute hier, schöne Natur, das übliche Smalltalk-Blabla eben. Ich kannte Dave und Mel kaum, und wusste wirklich nicht was die beiden mit mir vor hatten. Und Isabelles Ausbruch ging mir noch immer nicht aus dem Kopf.
„aber sonst so? Die Leute? Hey, du kommst aus Europa! Hast du diese Spiessigkeit hier nicht schon satt?“
Nein, eigentlich nicht. Ich fand es sogar amüsant. Ich habe jetzt sogar einen schwarzen Massanzug im Schrank und habe gelernt eine Fliege zu binden. Ich sagte den beiden, dass es mich an ein britisches Freilichtmuseum erinnert: „der Metzger fährt eine Morris Minor, der Maler einen Commer und Carl hat einen Jaguar. Wenn die Zähne noch schief wären: Grossbritannien im letzten Jahrhundert.“
Der letzte Satz liess meine beiden Gegenüber aufhorchen.
„Ist dir also auch schon aufgefallen, das mit den Zahnspangen hier?“ warf Mel ein.
„Isabelle hat mir gerade ihre Horrorgeschichte erzählt. Ich denke, sie ist nicht die Einzige, die sowas erzählen könnte...“
„... oh ja,“ sagte Dave, „glaube mir, ich könnte dir den ganzen Abend noch solche Geschichten weitergeben. MacGees Praxis ist gleich dort drüben,“ er zeigte mit der Hand in Richtung Ausgang. „weisst du wie viele Enttäuschungen hier schon hinunter gespült wurden, von Frauen, die von dort drüben gekommen sind. Manchmal können sie mir ihre Erlebnisse erzählen, manchmal ist es ihnen due to technical difficulties nicht mehr möglich.“
„Woher kommt dieser... ist‘s ein Kult?“ wollte ich wissen.
Die Antwort kam von Mel: „das hat mich Dave - neben ganz vielen Dingen - auch gefragt, als er hier bei mir in der Bar angefangen hat...“ somit wusste ich wie Mel ihren Lebensunterhalt bestreitet. Ihr gehört das Arch and Whale.
„und? Was hast du ihm geantwortet?“
In diesem Moment kam ein Paar in die Bar. Er über fünfzig, sie maximal dreissig. Sie trug einen Interlandi-Headgear mit zwei Facebows. Es erinnerte mich an eine dieser Schandmasken, die Isabelle erwähnt hat. Dave stand auf und ging die beiden bedienen.
In Richtung der jungen Frau schauend, meinte Mel: „MacGee schlug zu...“
„Sagt dir der Begriff ,Schandmaske‘ etwas?“
„Oh ja!“ antworte Mel, „ich muss los, aber think about it. War wirklich nett dich kennengelernt zu haben. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Es gäbe noch mehr über Saint Hiram zu bereden.“ sie drückte mir kräftig die Hand und ging. Ich nahm mein Cola, setze mich mit zwei Stühen Abstand zum Paar an die Bar. Im Spiegel hinten an der Wand konnte ich sie beobachten. Wenn sie den Mund öffnete, erinnerte es mich an einen Entenschnabel. Die Facebows schienen sie zu stören. Sie bewegte andauernd ihren Unterkiefer in alle erdenklichen Richtungen, was sich auf den Facebow übertrug. Sie faste sich auch mit den Fingern in den Mund, um zu ertasten.
Dave brachte ihnen ihre Drinks. Einen Whisky für ihn und ein Cola sie.
„Ich nehme an mit Strohhalm, my Lady?“
Sie nickte nur, nahm eine Serviette und trocknete vorsichtig ihre Tränen, ohne ihr Make-up zu verwischen. Sie trug ein gestärktes, rosafarbenes Hemd mit einem gekonnt geknoteten Seidenfoulard darunter, bestimmt von Hermes. Der Interlandi-Headgear drückte ihre blonden Locken gegen den Schädel, so dass sie nur im Nacken zur Geltung kamen.
Dann nahm sie einen Schminkspiegel aus ihren Louis Vuitton-Beutel, überprüfte ihr Make-up und begann einige Stellen nachzupudern. Dann kam die Wimperntusche dran, und schlussendlich versuchte sie ihre Lippen nachzuziehen. Ich konnte alles diskret im Spiel beobachten. Manchmal kreuzten sich seine Blicke und meinen, ich nickte im freundlich zu. Er kam mir bekannt vor. Dann sprach er mich an:
„Ihr Wagen ist jetzt definitiv unterwegs. Habe heute die Meldung aus den Hafen von Freemantle bekommen.“
Aber natürlich. Es war der Autohändler!
„Ich habe gewusst, dass ich sie kenne, konnte sie aber nirgends zuordnen. Aber jetzt ist alles klar!“
Ich setze mich zwei Stühle näher zu ihm, zwischen uns die junge Frau.
„Fiona sollten sie eigentlich auch kennen, sie arbeitet auch im Autohaus. Wobei wir ihr Aussehen heute etwas verändert haben. Nicht wahr, mein Täubchen?“
Das Täubchen erinnerte mich allerdings eher an eine Ente, wenn sich ihre beiden Facebows wie ein Schnabel bewegten.
Fiona drehte sich in meine Richtung. Hinter den beiden Facebows befand sich ein puppenhaftes Gesichtchen mit zwei bergseeblauen Augen.
„Komm, zeig unserem Kunden, was wir dir heute alles an Extras eingebaut haben. Ich habe den Doc gesagt, er soll alles auf einmal erledigen. Sie gehen ja auch nicht zuerst zum Ölwechsel, folgende Woche werden die Bremsen erneuert und eine Woche darauf die Batterie erneuert. Alles auf einmal! Mach mal deinen Mund auf, Täubchen!“
Erinnerte mich irgendwie an einen Autohändler, der einem den Motorraum eines Wagens vorführt. Und. Entsprechend ging es auch weiter:
„Fiona, sie ist übrigens meine Tochter, nur das da keine falschen Verdächtigen entstehen - sie wissen was ich meine - hatte als Kind schon so eine Richtbank im Mund. Und jetzt mit dreissig steht sozusagen, der Hunderttausender-Service an, mit allem, inklusive Zahnriemen und Radnaben. Nur so kann man den Wert erhalten.“
Er grinste, und fand seine Auto-Analogien witzig. Ich fand sie beschämend.
„Also da hätten wir mal oben und unten alle Zähne bebändert. Die sollen drin bleiben, nicht dass sie alle paar Wochen in die Garage, äh, in die Praxis rennen muss.
Dann den Facebow fest verbunden. Sie kennen ja diese jungen Dinger, immer alles Mögliche im Kopf, und dann vergessen sie...“ bei vergessen, machte er mit seinen Fingern zwei Apostroph. „... den Facebow zu tragen. Kenne ich von ihrer letzten Behandlung und der ihrer Schwester. Deren Service beginnt morgen. Ich hab dem Doc gesagt, er soll den Bogen doch gleich mit den Band verlöten. Zeig mal, Täubchen, ob er das gemacht hat. Offenbar hat er dieses Mal auf den Profi gehört. Dieser Facebow bleibt jedenfalls bis zum Ende der Revision drin, dass ist sicher.
Den unteren kann sie rausnehmen; sonst verhungerst du mir ja noch. Nicht war, Kleines?
Der eigentliche Grund für den Service war ihr lispeln. Sie stösst mit der Zunge beim Sprechen gegen die Zähne. Ich hab‘ ihr gesagt, sie soll damit aufhören. Jetzt wird es ihr mit diesem Ding abtrainiert.“
Sie hatte hinter den Frontzähnen ein Drahtgeflecht aus den einzelne Drähte richtig Zunge standen. Sah schmerzhaft aus.
„Sprechen kannst du noch?“ fragte ich sie direkt.
Sie schüttelte den Kopf und sagte etwas, das ich als: „nicht so gut.“, interpretierte.
„Ja, das muss sie rasch wieder lernen. Bei uns geschieht noch viel am Telefon, wie können nicht nur E-Mails versenden. Aber zu viel reden ist auch nicht immer gut. Reden ist Silber, schweigen ist Gold. Und das sagt ihnen ein Autohändler! Komisch, nicht?
Und dann hat sie noch diese Gummis, der Doc weiss bestimmt, was er damit will.“
Ich verabschiedete mich von Fiona, ihrem Vater, Dave und seiner Kollegin. Was zur Hölle geht auf diese Insel vor? Je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr kam ich zur Überzeugung, dass Cristina recht haben könnte.